Aktuelles, Stellungnahmen

Diskriminierung statt Inklusion? Stellungnahme zur Neuausrichtung der Inklusion

Gerichtet an:

Ministerium für Schule und Bildung
Frau Ministerin Gebauer
Herr Staatssekretär Richter

Stellungnahme zur Neuausrichtung der Inklusion durch die Landesregierung NRW

Sehr geehrte Frau Ministerin Gebauer, sehr geehrter Herr Staatssekretär Richter,

die Fachgruppe Schulsozialarbeit steht mit ihren aus der Jugendhilfe erwachsenen Grundprinzipien „Förderung von Bildung und Teilhabe“, „Selbstbestimmung“, „Partizipation“ und „ Gleichstellung“ für die individuelle Förderung jedes Kindes, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein. Unsere Arbeit ist somit grundsätzlich inklusiv ausgerichtet. Auf dieser Grundlage beteiligen wir uns aktiv an der Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft und einem inklusiven Bildungs- und Schulsystem. Deshalb stellen wir u.a. unsere Expertise und Erfahrung im Fachbeirat inklusive schulische Bildung zur Verfügung und bringen uns in den von Ihnen initiierten Dialog ein.

Die letzte Sitzung des Fachbeirates Inklusion veranlasst uns, unsere Position zu der von Ihnen verantworteten und von der Landesregierung beschlossenen Neuausrichtung der Inklusion zu verdeutlichen. Wir möchten hiermit sowohl dem von Ihnen artikulierten Eindruck, dass die Mitglieder des Fachbeirates Ihre Blickwinkel zur Neuausrichtung der Inklusion grundsätzlich teilen als auch Ihrer Aufforderung, den von Ihnen beschlossenen Weg nun zu unterstützen, entgegentreten.

Begründung

1. Rechtliche Grundlagen der Inklusion
Mit der Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen hat der Bundestag 2009 die Menschrechte für behinderte Menschen vorbehaltlos anerkannt und die für die schulische Bildung verantwortlichen Länder in die Pflicht genommen, das schulische Bildungssystem inklusiv umzubauen. Die Ziele gibt die Konvention vor.

Ausgehend vom Prinzip der Gleichberechtigung gewährleistet die UN-Behindertenrechtskonvention damit ein einbeziehendes (inklusives) Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen. Behinderte Kinder dürfen also nicht aufgrund ihrer Behinderung vom Besuch einer Grundschule oder einer weiterführenden Schule ausgeschlossen werden. Vielmehr soll ihnen gleichberechtigt mit anderen — nichtbehinderten — Kindern der Zugang zu einem einbeziehenden (inklusivem), hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht ermöglicht werden.

Auch unser Grundgesetz nimmt zu den Rechten der behinderten Menschen eindeutig Stellung und verbietet deren Benachteiligung (Artikel 3 Abs. 3 GG).

Diese Grundsätze spiegeln sich auch im Schulgesetz NRW wieder:

„§ 2 Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule
(5) Die Schule fördert die vorurteilsfreie Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung. In der Schule werden sie in der Regel gemeinsam unterrichtet und erzogen (inklusive Bildung).(…)“

An diesen Vorgaben muss sich jede Weiterentwicklung des schulischen Bildungssystems obligatorisch orientieren.

  1. Eckpunkte der Neuausrichtung der Inklusion
    In Ihren Ausführungen zu den Eckpunkten der Neuausrichtung der Inklusion haben Sie die grundsätzlichen Erwägungen der Landesregierung erläutert. Sie bekennen sich zur Inklusion, halten aber gleichzeitig an dem Angebot inklusiver Schulen (Regelschulen) und separierende Schulen (Förderschulen) fest. Sie begründen die von Ihnen auf den Weg gebrachten Reformen bei der Umsetzung im schulischen Bildungssystem mit Ihrer Absicht, einerseits dem Elternwillen zu folgen und andererseits die Qualität in den inklusiven Angeboten nicht nur zu sichern sondern zu steigern.Als Mittel der Wahl formulierten Sie hierzu insbesondere die Bündelung vorhandener Ressourcen (Stellen, Personal, Ausstattung) im Regelschulsystem, den notwendigen Ausbau dieser Ressourcen und die konzeptionelle Absicherung der inklusiven Arbeit. Weiterführende Schulen, die sich bereits auf den Weg der Inklusion begeben haben und derzeit die meisten Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen inklusiv beschulen, sollen von dieser Bündelung als Schulen des gemeinsamen Lernens profitieren. Außerdem sollen auch gleichzeitig die Förderschulen in Ihrem Bestand gesichert und gestärkt werden.
  2. Erlass über die Neuausrichtung der Inklusion
    In dem Erlass zur Neuausrichtung der Inklusion legen Sie die Ausführungsbestimmungen zu Ihren Eckpunkten fest. Dabei fällt auf, dass Sie im Regelschulbereich eine Schule fast vollständig aus der Verantwortung der inklusiven, schulischen Bildung nehmen: das Gymnasium. Während die Schulen des gemeinsamen Lernens insgesamt von der Schulaufsicht (ohne Mitbestimmung der Eltern in der Schulkonferenz) bestimmt werden, können die Gymnasien selbst entscheiden, ob sie inklusive Bildung anbieten. Diese richtet sich dann in der Regel auch nur an zielgleich zu fördernde Schülerinnen und Schüler, die zieldifferente Förderung darf nur nach vorheriger Zustimmung der Schulkonferenz (mit Mitbestimmung der Eltern) angeboten werden.
  3. Ablehnung der LAG
    4.1 Regelungen für das Gymnasium
    Die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen garantiert ein Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen. Dieses Recht gilt auch für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Ein Menschenrecht kann nicht ausgesetzt oder beschränkt werden: Es ist von den politischen Verantwortungsträgern umzusetzen. Mit den aktuellen Regelungen im Erlass verstößt die Landesregierung gegen dieses Menschenrecht – und gegen unsere Verfassung:
  • Eltern, die stellvertretend für ihre behinderten Kinder eine Beschulung an einem (wohnortnahen) Gymnasium beantragen und damit ihrem Kind die Möglichkeit eröffnen wollen, den schulischen Bildungsweg gemeinsam mit Klassenkameraden*innen aus der Grundschule fortzusetzen, sind von dem „good will“ der bereits an den Schulen tätigen Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen sowie den Schulleitungen abhängig. Das ist diskriminierend.
  • Auch die nicht behinderten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden in ihren Rechten beschnitten. Das im Schulgesetz garantierte Recht auf eine vorurteilsfreie Begegnung mit behinderten Menschen wird an den Gymnasien eingeschränkt oder ausgesetzt. Gerade im Hinblick auf das Ziel einer inklusiven Gesellschaft muss aber der Umgang miteinander eingeübt werden. Die Schule ist hierfür ein idealer Lernort, da alle Schüler*innen der Schulpflicht unterliegen und sich tagtäglich im konstruktiven und unterstützenden Miteinander erproben können. Nur durch Handeln und Erleben werden tradierte Vorurteile abgebaut und Hand-
    lungs-/Reaktionsmuster durchbrochen.
  • Rund 40 % aller Kinder wechseln in Klasse 5 an die Gymnasien. Zählt man noch die Gruppe der behinderten Kinder, die an den Förderschulen beschult werden, hinzu, so werden zukünftig rund die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in NRW nicht inklusiv beschult. Damit sendet die Landesregierung den Familien, Lehrkräften und Schulleitungen in diesen Schulgemeinden das Signal, dass sie sich nicht um eine qualifizierte inklusive Beschulung und eine zielführende Vorbereitung auf ein Zusammenleben in einer inklusiven Gesellschaft kümmern müssen.

4.2 Beibehaltung der Förderschulen
Über den Sinn und Nutzen separierter Beschulung von behinderten Menschen in den Förderschulen gibt es viele, zum Teil sehr widersprüchliche wissenschaftliche Untersuchungen. Unbestritten ist aber, dass die im europäischen Vergleich sehr erfolgreichen Schulsysteme alle inklusiv organisiert sind. Es gibt hier keine Förderschulen, die Beschulung aller Kinder und Jugendlicher erfolgt an den gleichen Schulen/Standorten. Damit das auch in Deutschland und insbesondere in NRW möglich wird, müssen die Mittel in den Bildungsetats in der Tat gebündelt werden. Die wichtigste Zusammenführung der Ressourcen schließt die Landesregierung aber kategorisch aus:

  • Schon kurz nach der Ratifizierung der UN-Konvention zu den Rechten der behinderten Menschen durch den Bundestag (2009) hat der Bildungsforscher Klaus Klemm (Universität Essen-Duisburg) empfohlen, die „Zweigliedrigkeit“ (Regelschulen, Förderschulen) aufzuheben und die Ressourcen in einem inklusiven schulischen Bildungsangebot zusammenzuführen. Anders sei die Umstellung auf ein inklusives Bildungssystem nicht zu finanzieren.
  • Zum gleichen Ergebnis ist 2018 der Landesrechnungshof Niedersachsen gekommen. Er fordert die Landesregierung unseres Nachbarbundeslandes auf, im Sinne der Qualitätssicherung in einem inklusiven, schulischen Bildungsangebot der „Mittelverschwendung“ durch die Beibehaltung der Förderschulen ein Ende zu setzen.
  • Dabei muss eine Bündelung der Mittel in diesem Sinn nicht automatisch die Schließung der Förderschulen bedeuten – ganz im Gegenteil. Am Beispiel des deutschen Schulpreisträgers 2018, der Martin-Schule in Greifswald, kann man veranschaulichen, wie Förderschulen ihr know how in ein inklusives Bildungsangebot einbringen können. Durch die Öffnung für Regelschüler*innen werden auch Förderschulen zu Orten inklusiver Beschulung – das Schlagwort hierzu lautet: „Umgekehrte Inklusion“.
  1. Fazit
    Wir erkennen die Absicht der Landesregierung an, unser schulisches Bildungssystem inklusiv umzubauen. Wir befürworten auch den Ausbau der notwendigen Ressourcen. Den von Ihnen eingeschlagenen Weg der Neuausrichtung der Inklusion lehnen wir aber ab:
  • Die Rechte der behinderten und der nicht behinderten Kinder und Jugendlichen werden nicht hinreichend gefördert bzw. gestärkt.
  • Die Exklusion einer ganzen Schulform (Gymnasium) bei der Verantwortung für die Umsetzung inklusiver, schulischer Bildung ist gesellschaftspolitisch ein katastrophales Signal.
  • Die Beibehaltung und Stärkung von Förderschulen bei weiterhin unzureichender Ausstattung von Schulen des gemeinsamen Lernens aller Schulformen behindert den Ausbau und die Qualitätssicherung/-steigerung der „direkten“ und „umgekehrten“ Inklusion.

Die Landesarbeitsgemeinschaft Schulsozialarbeit NRW fordert die Landesregierung auf, die umfassende Expertise im Fachbeirat inklusive schulische Bildung für eine zielführende Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems nicht nur zur Kenntnis zu nehmen sondern auch für eine Neuausrichtung zu nutzen. Diese Umgestaltung darf sich einzig und allein an den Grundrechten und an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen orientieren.

Mit unserer Haltung und unseren Forderungen sehen wir uns im Einvernehmen mit den Mitgliedern des Bündnisses für Inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen und dem Landesverband Schulpsychologie. Wir hoffen, dass Sie in den fachlichen Stellungnahmen den gemeinsamen Kern erkennen:

Nordrhein-Westfalen braucht eine inklusive schulische Bildung für alle Kinder und Jugendlichen an allen Schulen unseres Bundeslandes – unsere Kinder und Jugendlichen haben einen Rechtsanspruch hierauf!

Hieran möchten wir gerne aktiv und konstruktiv mitarbeiten.

 

Wolfgang Foltin                                               Dorle Mesch
1. Vorsitzender                                    Stellvertretende Vorsitzende